| Wir hefteten ihm einen Schweineschwanz aus Löschpapier | 
| Hinten an sein Jacket, wenn er vorn an der Tafel stand | 
| Vertieft in seinen «alten Menge», dies Latein-Brevier | 
| Der Klasse seinen gramgebeugten Rücken zugewandt | 
| Der kleine Doktor Brand war uns ganz einfach nicht gewachsen | 
| Nicht unserem Spott, nicht unserer Bosheit und nicht unseren Faxen | 
| Zwei Dutzend Pubertanten, die ihn feixend imitierten | 
| Und wie zum Hohn im Chor mit ihm «amare» konjugierten: | 
| «Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant» | 
| «Am Arsch» fügt ich hinzu, hinter der vorgehalt’nen Hand | 
| Wir waren die Crème de la Crème der übelsten Gesellen | 
| Er war so eine sanfte, verletzliche Kreatur | 
| Ein wohlfeiles Opfer für uns, geübt im Fallenstellen | 
| Der gutmütige, kleine Mann mit der Igelfrisur | 
| Der uns noch nach der Schule half, wenn wir Nachhilfe brauchten | 
| Uns nicht verpetzte, wenn wir auf der Schultoilette rauchten | 
| Zum Dank hieß es «einer für alle, alle gegen einen» | 
| Wir brachten den gestandenen Mann vor der Klasse zum Weinen | 
| Als auf der Tafel stand, gekritzelt von Schülerhand: | 
| «Ave Doktor Brand, dormituri te salutant!» | 
| Ein stoppelhaariges Mondgesicht ergänzte noch unser Spottgedicht | 
| «Wenn alles schläft, nur einer spricht, ist das Doktor Brands Unterricht!» | 
| All das lag unter dem gnädigen Staub von 60 Jahren | 
| Der stille Kauz und sein Latein sind längst Vergangenheit | 
| Von einem seiner jüngeren Schüler hab ich erst erfahren | 
| Dass er den rosa Winkel trug an seinem Häftlingskleid | 
| Als sie von Sachsenhausen zum Belower Wald marschierten | 
| Geschunden, ausgehungert fanden ihn die Alliierten | 
| Mai '45, stumm, verstört und nur noch Haut und Knochen | 
| Die Würde aber unberührt, sein Wille ungebrochen | 
| So gibt er mir noch eine Lektion, die ich nicht vergesse | 
| Im «AcI»: «Memento discipuli, errare humanum esse!» | 
| Wie wünschte ich heute, dass ich Worte der Versöhnung fände | 
| Es tut mir so leid, ich bin mit meinem Latein am Ende | 
| «Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant» | 
| «Scio quod nescio, da mihi veniam, Doktor Brand!» |