| Das Foto vor mir auf dem Tisch | 
| Ist längst vergilbt und altmodisch | 
| In seinem jugendstilgeschwung’nen Rahmen | 
| Ein kleines Mädchen jener Zeit | 
| In einem weißen Spitzenkleid | 
| So wie auf manch alten Bonbonreklamen | 
| Ein kleiner, runder Kinderkopf | 
| Ein rabenschwarzer Lockenschopf | 
| Und große braune Augen, unbestritten | 
| Meine eigenen Züge sind | 
| Dem kleinen Mädchen, wie ich find' | 
| Wie man so sagt, aus dem Gesicht geschnitten | 
| Sie mag drei Jahr' sein, oder vier | 
| Welch eine Reise liegt vor ihr | 
| Welch langer Weg an ihrem Lebensmorgen | 
| Freude und Leid der Kinderzeit | 
| In Güte und Geborgenheit | 
| Die Schule und damit die ersten Sorgen | 
| Der Erste Weltkrieg bricht herein | 
| Sie ziehen ihren Vater ein | 
| Zum «ungedienten Landsturm», wie sie’s nennen | 
| Ihn, dessen Hände zur Musik | 
| Viel besser taugen als zum Krieg | 
| Und sie lernt Hunger und Entbehrung kennen | 
| Kriegsende, Elend, Inflation | 
| Das Ende mancher Illusion | 
| In Ungewissheit, Wirrwarr und Geschiebe | 
| Der Mut zu einem Neubeginn | 
| Die Ausbildung als Lehrerin | 
| Die erste und gleich die ganz große Liebe | 
| Die Feste in den Ateliers | 
| Die Bälle, die Künstlercafés | 
| Das Charlestonkleid, Stirnband und kurze Haare | 
| Und jeder Tag und jede Nacht | 
| Wird wie ein Feuerwerk entfacht | 
| Es sind auch ihre «wilden zwanz’ger Jahre» | 
| Die Jugendliebe wird ihr Mann | 
| Im Beruf erkennt man sie an | 
| Ihr erstes Kind, ein Mädchen, wird geboren | 
| Doch Deutschland wird mobil gemacht | 
| Und wieder senkt sich tiefe Nacht | 
| Über die Welt, und alles ist verloren | 
| Sie holen alle für den «Sieg» | 
| Und auch ihr Mann muss in den Krieg | 
| Sie selbst wird in Berlin zum Dienst verpflichtet | 
| Und als der Bombenhagel fällt | 
| Bringt sie mich eines Nachts zur Welt | 
| Im Klinikflur, so hat sie’s mir berichtet | 
| Und nun wird Alles doppelt schwer | 
| Allein in diesem Trümmermeer | 
| Es geht nur noch darum zu überleben | 
| Und dabei hat sie irgendwie | 
| Auch wenn der Himmel Feuer spie | 
| Mir Wärme und Geborgenheit gegeben | 
| Und dann im zerbombten Berlin | 
| Mit mir von Tür' zu Türe zieh’n | 
| Manchmal gibt’s was auf Lebensmittelkarten | 
| Sich nicht verlier’n in dem Gewirr | 
| 'N Kelle Brei ins Kochgeschirr | 
| Und wieder in endlosen Schlangen warten | 
| Aus ihren Kleidern macht sie mir | 
| Mantel und Rock, und wenn ich frier' | 
| Briketts aus den letzten Habseligkeiten | 
| Mit Liebe und aus nichts macht sie | 
| Mir Spielzeug und mit Phantasie | 
| Eine glückliche Zeit aus bitt’ren Zeiten | 
| Zum Avus-Rennen mit mir geh’n | 
| Nach Tempelhof, die Flieger seh’n | 
| Im Kaufhaus stundenlang Rolltreppe fahren | 
| Sie lehrt mich schwimmen und sogar | 
| — Etwas verbot’ner Weise zwar — | 
| Den Brezelkäfer fahren, mit zwölf Jahren | 
| Und dann in meiner wilden Zeit | 
| Stur wie ein Bock, mit allen Streit | 
| Kein noch so guter Rat wird angenommen | 
| Nur ihrer, so ganz nebenher | 
| Sie lässt mir das Gefühl, als wär' | 
| Ich zu der Einsicht ganz allein gekommen | 
| Der erste eig’ne Weg ist schwer | 
| Weiß nicht, wie oft ich noch heimkehr' | 
| Mit vollem Herzen und mit leeren Taschen | 
| Wie oft hat sie mir dann verdeckt | 
| Manche Markfünfzig zugesteckt | 
| Den Koffer gepackt und mein Zeug gewaschen | 
| Nach Hause kommen, das tat gut! | 
| Noch oft hat sie mir neuen Mut | 
| Ideen und Begeisterung gegeben | 
| Manch Beispiel von Großzügigkeit | 
| Die Lebensfreude zum Geleit | 
| Und manch gute Lektion blieb bei mir kleben | 
| Heute fällt ihr das Sehen schwer | 
| Die Augen sind so gut nicht mehr | 
| Und sie hat Mühe ohne Glas zu lesen | 
| Das Leben währet achzig Jahr | 
| Sagt man, und wenn es köstlich war | 
| Dann ist’s, wie ihres, Müh' und Last gewesen | 
| Die schwarzen Haare sind schlohweiß | 
| Und so schließt sich der Bilder Kreis | 
| Die sich für mich um ihr Kinderbild ranken | 
| Auch wenn’s gar nichts zur Sache tut: | 
| Ich schwör's, besäß' ich einen Hut | 
| Dann zög' ich ihn jetzt vor ihr in Gedanken |